Gastbeitrag von KONRAD
Herford, Bahnhof, an einem gewöhnlichen Freitag Nachmittag. Markus K. und Stefan B. (Namen von der Redaktion geändert) besteigen den Nahverkehrszug in Richtung Warburg. Ihr Ziel: die Documenta, die weltweit wichtigste Ausstellung für Gegenwartskunst, die wie alle fünf Jahre auch in diesem Jahr in Kassel stattfindet. Doch Markus und Stefan sind keine gewöhnlichen Kunstinteressierten. Sie tragen kurz geschorenes Haar und auf ihren Krawatten steht in Frakturschrift: "Finissage". Markus und Stefan sind Kunst-Hooligans. Gewaltbereite der sogenannten Kategorie C - gewaltsuchend. Und sie sind gut vorbereitet, um an diesem Wochenende, wie an so vielen anderen zuvor, Angst und Schrecken in Deutschland zu verbreiten.
Markus liest aus dem Katalog der Documenta 12, den er sich neben viel Bier am Bahnhof gekauft hat, vor: "'The big exhibition has no form.' Da hat Buergel recht oder wie der Schnurrbarttyp heißt: Zumindest nicht mehr, nachdem wir da waren!" Er lacht schallend und öffnet ein Herforder mit den Zähnen. Stefan, der bereits zu dieser frühen Stunde angetrunken wirkt, stimmt ihm wenig druckreif zu: "Migration der Form? Am Arsch!"
Woher kommt der Hass, der aus diesen Worten spricht? Was treibt die Kunst-Hooligans, meist junge Männer mit festem Einkommen, dazu, Woche für Woche auf der Suche nach Gewalt mit der Bahn zu Galerien, Kunsthallen und Happenings zu fahren? Stefan arbeitet als Ingenieur im Südniedersächsischen, Markus ist Ordinarius für Geschichtswissenschaft an einer deutschen Universität. Berufe, in denen sie sich früher begeistert engagiert haben, bis sie merkten, wie wenig Abwechslung ihre Arbeit auf Dauer bietet. Der daraus resultierende Frust wollte abgebaut sein. So gründeten die beiden eines Abends in bierseliger Runde die "Herforder Finissage". "Da, wo wir sind, ist immer Finissage, oft schon am ersten Tag der Ausstellung", erläutert Markus augenzwinkernd und schlägt mit der rechten Faust in die flache linke Hand. Markus und Stefan sind in der Szene als "Allesfahrer" bekannt - von der kleinsten Ausstellung im Schloss Gottorf bis hin zur MoMa sind sie überall dort, wo sie noch nicht Ausstellungsverbot haben und suchen ihre spezielle Form von Abenteuer. "Wir arbeiten an einem erweiterten Kunstbegriff", sagt Stefan drohend und lässt ein Butterflymesser geschickt durch seine Finger gleiten.
Von Montag bis Freitag, zwischen Proseminar und Netmeeting, sind Kunst-Hooligans ganz normale Bürger. Unauffällig und perfekt angepasst. Erst wenn sie sich am Wochenende in ihrer "Kluft" (mit Hornbrille, Jackett und einer Aktentasche voller Bier bewaffnet) in den Zug setzen, verwandeln sie sich in die Sorte von Bahnfahrern, wegen derer man lieber das Abteil wechselt. "Goya ist Kunsthandwerk!" und "Donald Judd ist homosexuell!", so gellen ihre stumpfsinnigen Rufe durch den Zug. Das rhythmische Händeklatschen und die markerschütternde Zwölftonmusik aus ihren voll aufgedrehten Handys tun ein Übriges, um so genannten "Gegnern" Furcht einzuflößen.
Doch wer sind diese Gegner? Schwer zu sagen. Kunst-Hools sind auch deshalb so gefährlich, weil sich ihre diffuse Wut gegen alles und jeden entladen kann. "Fluxus ist bis heute total überbewertet", redet Markus sich in Rage, "fließender Übergang zwischen Kunst und Leben, Aktionskunst, Happenings, das ganze Pipapo. Und heute liegen die Sachen in den Museen und sind voll in der institutionalisierten Kunst aufgegangen!" Und Stefan, der gerade aus einem kurzen Nickerchen erwacht, ergänzt scheinbar zusammenhanglos: "Minimal Art? Am Arsch!"
Umstieg in Altenbeken. Markus und Stefan füllen ihre Aktentaschen mit Paderborner Goldbräu auf. Auf einmal erschrecke ich: Der Bürgerverein Hameln auf dem Weg zur großen Dortmunder Expressionismus-Ausstellung steigt ebenfalls in Altenbeken um. Markus und Stefan werfen sich in Drohposen und stoßen Schmährufe aus. Ich sehe mich nach Polizeischutz um: Fehlanzeige. Rund um Kassel versucht die Polizei alles, um während der Documenta Herr der Lage zu bleiben, doch jeden Provinzbahnhof zwischen zwei Ausstellungen kann sie nicht überwachen. Es kommt jedoch - noch - nicht zum Äußersten. Die rüstigen Senioren aus Hameln steigen, wohl aufgrund ihrer Schwerhörigkeit die Gefahr nicht ahnend, seelenruhig in den RegionalExpress nach Hamm und auch Stefan und Markus sprinten schließlich zum Zug, um noch rechtzeitig nach Kassel zu kommen.
Zeit für mich, den beiden die Frage nach ihrer Motivation zu stellen. Wozu tun sie sich das jedes Wochenende an: die hohen Eintrittspreise, die langen Fahrten, stundenlanges Herumgehen in klimatisierten Räumen? "Kunst ist meine Religion", so Markus, der inzwischen vernehmlich lallt und dem beim Lesen fast der Baudrillard aus der tätowierten Hand gefallen wäre. Stefan ergänzt: "Wenn ich am Wochenende mit all den anderen Kunstverrückten im Hamburger Bahnhof oder in der Neuen Pinakothek stehe, dann weiß ich: Hier gehörst du hin. Da zählt nicht, was du arbeitest oder wie viel Geld du verdienst - da zählt nur unsere Trinkfestigkeit und unser gemeinsamer Hass auf alle Kunstrichtungen, die wir nicht verstehen."
"Die Expressionismus-Omas gerade haben verdammtes Glück gehabt...", tönt Stefan weiter, "Schmidt-Rottluff? Am Arsch!" Und beide beginnen wieder ihre archaischen Lieder zu singen: "2010, ihr werdet es schon sehen: Wir holen den T-T-Turnerpreis und wir lesen Wilhelm Meister - Meister!!!" Darauf lachen beide, scheinbar voller Freude. Doch es ist in Wahrheit ein Lachen voller Hass, das Angst macht.
"In meiner Schulklasse zerkleinern sich einige Leute ihre Ritalintabletten mittels einer Feile oder ähnlichen Werkzeugen und ziehen uns das Pulver mit einem Strohhalm in die Nase. Danach ist dann der Tag gerettet, insbesondere, wenn wir Politik haben. Manchmal Vor Sport kommt das aber nicht so gut. Ich habe das erst zweimal probiert, denn ich möchte ja nicht als Gangsta enden, sondern ein fitter Junge bleiben. Fällt mir nur gerade ein, wo ich diese Automatennüsse sehe. Die kann man aber gestrost essen."